Side Effect by Lukas Erler

Side Effect by Lukas Erler

Autor:Lukas Erler
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Arena Verlag
veröffentlicht: 2019-01-31T00:00:00+00:00


ZWEIUNDZWANZIG

Wir schaffen es tatsächlich, um 14.00 Uhr loszukommen. Natürlich haben wir beide nicht geschlafen, aber das macht nichts. Die bleierne Müdigkeit, die ich heute Morgen bei der Ankunft in La Petite-Pierre gespürt habe, ist einer nervösen Anspannung gewichen, die mich förmlich vibrieren lässt. Ich bin heilfroh, als wir endlich aufbrechen.

Die Ausrüstung ist schnell zusammengestellt. Erol hat einen kleinen Rucksack dabei, der für uns beide reicht. Der Mann an der Hotelrezeption hat uns netterweise ein Fernglas geliehen und im Chez Sylvain kaufen wir Sandwiches, Milch und Mineralwasser als Proviant für den Weg.

Schon nach einer halben Stunde sind wir von der Landschaft, die uns umgibt, restlos fasziniert. Zunächst wandern wir durch dichten Laubwald. Als wir dann den Richtungswechsel nach rechts vollziehen, lassen wir rote Sandsteinformationen hinter uns, die an gigantische Pilze erinnern. Hin und wieder treffen wir andere Wanderer, die lächeln und grüßen. Mit unserem Rucksack fallen wir hier tatsächlich nicht im Geringsten auf.

Der Naturpark Nordvogesen wirkt wie die riesige Kulisse eines Fantasyfilms. Mal ragen hohe rote Sandsteinfelstürme mit verwitterten Burgen über dicht bewaldeten grünen Hügelketten auf. Dann wieder reicht die Sicht grenzenlos weit bis zum Horizont über welliges Hügelland. Laut Erols Wanderführer gibt es im gesamten Park fünfunddreißig Burgen und Burgruinen, die meisten auf schroffen Felsen erbaut. Wir treffen auf stille Teiche und Weiher, überqueren ein Torfmoor und erreichen nach mehr als zwei Stunden eine saftige Waldwiese, auf der ein einzelnes zotteliges Hochlandrind mit gewaltigen Hörnern regungslos in der Sonne steht.

»Lass uns eine Pause machen«, sagt Erol.

Ich werfe einen misstrauischen Blick auf das Riesenrind und schaue mich dann nach einer schattigen Stelle am Rande der Wiese um. Mir ist ein bisschen schlecht. Die Nachmittagshitze und der fehlende Schlaf in der letzten Nacht machen mir zu schaffen. Und die Angst vor der Enttäuschung. Dauernd schwirrt mir ein Gedanke im Kopf herum: Was ist, wenn Nesrin nicht in dieser Klinik ist? Es kann Tage dauern, das überhaupt herauszubekommen. Wertvolle Zeit, die wir vergeuden würden, wenn wir eigentlich tatsächlich ganz woanders suchen müssten. Nur dass wir gar keine andere Spur haben. Wenn sie nicht in diesem Chateau ist, habe ich nicht die leiseste Idee, wohin man sie gebracht haben könnte.

Erol hockt sich in den Schatten, öffnet den Rucksack und reicht mir ein Stück Baguette. Ich schüttele den Kopf und greife stattdessen nach der Mineralwasserflasche, die leider schon reichlich aufgewärmt ist.

»Müssten wir nicht bald da sein?«

Erol nickt und kaut. »Wir sind praktisch da. Schau mal über die Wiese. Sie ist eine Art Hochplateau, hinter dem Zaun geht’s ziemlich steil bergab, dann kommt eine Talsohle. Du kannst es von hier aus nicht sehen, aber das Chateau Lumière befindet sich genau in dieser Mulde.«

Mein Blick folgt seinem Finger. »Woher weißt du das so genau?«

»Google earth«, sagt Erol.

Bis zu diesem Weidezaun sind es vielleicht sechzig Meter. Erol scheint mir anzusehen, dass ich aufspringen und sofort dorthin laufen will. »Gib mir drei Minuten zum Essen«, sagt er. Ich verhalte mich ruhig und warte, bis er den letzten Bissen mit einem Schluck Wasser heruntergespült hat. Dann steht er auf und schnappt sich seinen Rucksack.



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